Magazin Rubriken Versorgungssicherheit
Das Kraftwerk Letten in Zürich.

Möglicher Strommangel: Bringt er auch Chancen?

Die aktuelle Energiekrise sei ein Glücksfall, findet die Forscherin Christina Marchand im Interview. Auch deshalb, weil das europäische Stromnetz dringend mehr erneuerbare Quellen braucht. Aber wie funktioniert dieses Stromnetz eigentlich?

So schlimm wie befürchtet wird es wohl nicht kommen. Während im Sommer von akut drohenden Stromlücken die Rede war, von möglichen Abschaltungen, dem Verlust unseres Lebensstandards. Während in manchen Medien Begriffe wie Strommangel und Blackouts wild vermischt wurden.

Während bis vor Kurzem also noch eine alarmierende Stimmung herrschte, hat der Bundesrat Anfang November Entwarnung gegeben. Die Lage sei angespannt, aber nicht mehr gravierend. Der warme Herbst, die Regenfälle und gefüllten Gasspeicher in Deutschland haben die Lage deutlich entschärft. Zudem hat der Bund mit Massnahmen wie der Installation eines Reservekraftwerkes in Birr AG, der Wasserkraftreserve und mehr die Versorgungssicherheit gestärkt.

«Aus dem Schneider sind wir aber noch nicht», sagt Thöme Jeiziner, Mediensprecher von ewz. Jeiziner ist Mitglied einer Taskforce von ewz, die sich mit der aktuellen Stromlage auseinandersetzt. Die Taskforce erstellt Massnahmenpläne für den Fall, dass der Strom zu knapp wird [siehe Infobox ganz unten].

«Falls es während Wochen sehr kalt bleibt und die Hälfte der französischen AKWs wider Erwarten nicht ans Netz kommt, könnte es eng werden», sagt er. Doch in Privathaushalten wurde sehr viel Strom gespart, Reserven seien vorhanden. Im Oktober und November fiel der Stromverbrauch sogar mehrmals unter die Prognosen.

Christina Marchand fährt auf ihrem Fahrrad.
Christina Marchand steht neben ihrem Fahrrad.

Nicht als Krise, sondern als Chance sieht Christina Marchand die drohende Stromverknappung. Marchand ist Forscherin am ZHAW, Energieexpertin, Unternehmerin und hat unter anderem das Festival «Films for Future» ins Leben gerufen. Sie nennt die aktuelle Situation einen Glücksfall.

Christina Marchand, wieso ist die aktuelle Lage ein Glücksfall?

Wir befinden uns in einer Art Übungskatastrophe – die Situation ist angespannt, aber nicht wirklich schlimm. Im Vergleich zu einer ausgewachsenen Krise sind vier Stunden Stromabschaltung zu bewältigen.

Was nun geschieht, hat unser Bewusstsein für mögliche Krisen geschärft. Dadurch ist die Bereitschaft gestiegen, die Energiewende endlich konsequent anzugehen. Das kommt auch dem Klimaschutz zugute.

Wir kommen also gut durch den Winter.

Ich bin sehr zuversichtlich.

Wo liegen nun die wichtigsten Aufgaben?

Mit der Klimakrise und dem möglichen Strommangel sind wir mit zwei Problemen konfrontiert. Dank der erneuerbaren Energien können wir Abhängigkeiten reduzieren. Der Ausbau muss deshalb eine höhere Dringlichkeit erhalten. Wir haben ihn verschlafen und bekommen es jetzt zu spüren.

«Was nun geschieht, hat unser Bewusstsein für mögliche Krisen geschärft»
Rückseite Staumauer Lago di Lei mit Solarpanels.
ewz-Solaranlage an der Staumauer Valle di Lei
Zwei Windräder stehen in einem Feld mit Wildblumen.
ewz-Windpark Schermen in Deutschland
Christina Marchand läuft in zackigem Schritt vorbei.

Wer muss in die Pflicht genommen werden?

Privatverbraucher können nur wenig ausrichten. Gefragt sind die Unternehmen, die bisher viel zu wenig getan haben. Sie müssen mitdenken und ihren Verbrauch dem Angebot anpassen.

Derzeit ist praktisch keine Verbraucherelastizität vorhanden, Firmen können nicht flexibel auf Verfügbarkeit und Preise reagieren. Die Industrie muss lernen, direkt und minütlich zu reagieren. Dafür braucht es Smart Meter und flexible Strompreise. Ein Anreiz besteht jedoch nur, wenn die Strompreise hoch genug sind.

Hohe Strompreise sind also etwas Gutes?

Hohe Strompreise sind nicht per se schlecht. Steigt der Preis allerdings plötzlich um das Zehnfache, gefährdet er den Markt. Ein knappes Gut ist aber gut für die Umwelt, weil dann weniger verbraucht und das Wenige effizienter genutzt wird.

Wie konnte es überhaupt zum drohenden Strommangel kommen?

Er ist die Folge einer unglücklichen Verknüpfung von Zufällen: Zahlreiche AKWs in Frankreich wurden zum Unterhalt vom Netz genommen, mit dem Ukrainekrieg blieben Gaslieferungen aus und wir hatten einen heissen und trockenen Sommer.

Oft wird das europäische Stromnetz mit einem «Stromsee» [siehe Erklärvideo] verglichen: Der Strom fliesst aus unterschiedlichen Quellen wie Wind- und Solaranlagen, AKWs, Gaskraftwerken, Kohlekraftwerken und weiteren Stromerzeugern ins europäische Netz. Aus diesem «Stromsee» beziehen alle Verbraucher ihren Strom, auch ewz.

Die Schweiz ist integraler Teil dieses Netzwerks. Durch die Schweiz fliessen 41 Grenzleitungen. Mit dem «Stern von Laufenburg» liegt ein wichtiger Knotenpunkt des europäischen Netzes auf der Schweizer Seite des Rheins.

«Wenn Europa ein Stromproblem hat, haben auch wir eins», sagt Jeiziner. Theoretisch könnte ewz den Strombedarf seiner Kund*innen zwar mehr als decken. ewz ist jedoch Teil des schweizerischen und somit des europäischen Höchstspannungsnetzes. Jeiziner: «Die Zeiten, als exklusiv eine Stromleitung von unseren Kraftwerken in Mittelbünden nach Zürich führte, sind längst vorbei.»

Auf der Handyhülle von Christina Marchand ist ein Kleber mit einer Sonne und dem Text "erneuerbar" aufgeklebt.
Luftaufnahme eines Schulhausdachs, welches mit einer Solaranlage bestückt ist.
Für Solarstrombeteiligungen: ewz-Solaranlage auf dem Schulhaus Luchswiesen
Stilllife von Pflanzen.
Christina Marchand und Thöme Jeiziner im Gespräch.
«Ein knappes Gut ist gut für die Umwelt, weil dann weniger verbraucht wird.»

Müssten die Länder unabhängig voneinander werden?

Marchand: Wäre die Schweiz eigenständig, wäre der Strom viel teurer. Ein Austausch ist auch aufgrund der unterschiedlichen Ressourcen sinnvoll: Wo die einen Strom aus Wind- und Solarkraft liefern, verfügen andere über AKWs oder Wasserkraftwerke.

Welche Rolle hat die Schweiz?

Mit ihren Stauseen kann die Schweiz Speicherkapazitäten für die umliegenden Länder zur Verfügung stellen. Sie muss für ihre Nachbarn mitdenken. Zudem exportieren wir Strom und verdienen gut daran.

Allerdings zeigt die Krise, dass jedes Land seine Grundbedürfnisse selbst decken können sollte, da im Zweifelsfall der Handel nicht mehr funktioniert. Normalerweise aber ist der Handel gut für uns und die stabile Stromversorgung. Deshalb wäre ein neues Stromabkommen so wichtig.

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Der Stromhandel funktioniert einerseits wie ein Aktienmarkt, wo Nachfrage und Angebot den Preis bestimmen. An diesem kontinuierlichen Handel decken sich die Strombezügerinnen für die kommenden Jahre ein. ewz verkauft Strom bis zu zwei Jahre im Voraus.

Zwischen Grossverbrauchern und Produzenten können sogar Verträge über 15 Jahre und mehr abgeschlossen werden. An diesem Terminmarkt kostete eine Megawattstunde Strom im August 1’050 Euro – für eine Jahreslieferung für 2023. Mitte November wurde derselbe Vertrag für 336 Euro gehandelt.

Gehandelt wird andererseits an der europäischen Strombörse am «Day Ahead Market». An dieser Auktion bestimmt das jeweils letzte Angebot den Strompreis. Der Preis gilt nach Abschluss der Auktion für alle Produzenten und Lieferanten – auch für diejenigen, die günstiger hätten liefern können.

Für diese kurzfristigen Verträge kostete die Megawattstunde im August in Deutschland 860 Euro. Lag die Produktion der erneuerbaren Energien jedoch hoch, fielen die Preise bisweilen auf 13 Euro pro MWh. Durchschnittlich kostete die Megawattstunde Mitte November rund 200 Euro. Die Kurse schwanken aufgrund von Nachfrage und Angebot.

Hohe Preise können aber auch Vorteile haben. «Das aktuelle Marktumfeld unterstützt die Rentabilität von Produktionsanlagen für erneuerbare Energien und kann mittel- bis langfristig deren Ausbau fördern», sagt Timur Bürki, Leiter Handel und Bewirtschaftung von ewz.

Die aktuelle Marktsituation erhöhe die Attraktivität der erneuerbaren Energien enorm und dürfte zu einem starken Ausbau führen. Als problematisch sieht er hingegen die staatliche Abschöpfung der Übergewinne. «Die Gelder werden nicht für den Ausbau verwendet.»

Christina Marchand, Thöme Jeiziner und Jan Graber im Gespräch.
Thöme Jeiziner und Christina Marchand erzählten noch viel mehr Spannendes – die Qual der Wahl für unseren Autoren Jan
Zwei Stockenten schwimmen im Wasser.
Ein Teil des Kraftwerks Letten, die Limmat, eine Brücke und Bäume.
Ein fliegender Fischreiher. Im Hintergrund sind Bäume und Hochhäuser der Stadt Zürich zu sehen.

In der Schweiz regen sich oft Widerstände gegen den Ausbau erneuerbarer Energien. Besonders die Windkraft steht in der Kritik. Welcher Ausbau ist in der Schweiz möglich?

Mit der richtigen Kommunikation ist vieles machbar. Oft sind es kleine Gruppierungen, die sich am lautesten an etwas stören. Menschen in der Nähe von Windparks, die selbst davon profitieren, haben meist kein Problem. Die Kommunikation ist Aufgabe der Politik. [Anm. d. Red: Das Bundesgericht hat mittlerweile alle Beschwerden gegen den Windpark Mollendruz im Waadtländer Jura abgelehnt, an dem auch ewz beteiligt ist.]

Wo bestehen die grössten Chancen für einen Ausbau?

Ich sehe grosse Chancen beim Solarstrom, vor allem für Photovolatikanlagen auf bestehenden Infrastrukturflächen: auf grossen Industriegebäuden, Parkplätzen, Kläranlagen, entlang den Autobahnen. Unverbaute Täler sollte man hingegen unbedingt so belassen.

Die Allgemeinheit muss zudem dort mitbezahlen, wo sie profitiert. Zum Beispiel, wenn ein Bauer ein grosses Dach mit Photovoltaik bestücken will. Die Gemeinden und Stromversorger müssen proaktiv auf Unternehmen und Private zugehen.

Sehen Sie noch weiteren Bedarf?

Wir benötigen dringend gute Ausbildungen und Umschulungen dort, wo Berufe wegfallen. Politik, Bund und die Gemeinden müssen strategisch planen und auch mal vordergründig unbequeme Entscheidungen treffen, die langfristig sinnvoll sind.

Sie müssen klare Regeln für die Bevölkerung und Rahmenbedingungen für die Wirtschaft aufstellen. Dafür braucht es eine klare Kommunikation des Bundes über die drohende Klimakrise und ihre Auswirkungen. Der Wandel muss jedoch sozial gerecht gestaltet werden.

Wie wäre dies möglich?

Meiner Meinung nach braucht es eine Lenkungsabgabe – ein Fee-and-Dividend-System. Wer viel fossile Energie braucht, bezahlt viel dafür. Der Ertrag, der über die reinen Produktkosten hinausgeht, wird an die Bevölkerung zurückverteilt. Dadurch profitieren diejenigen, die wenig CO2 erzeugen. So schaffen wir Anreize und einen Ausgleich.

Langfristig werden wir ein super Leben haben, aber kurzfristig müssen wir es über den Berg schaffen.

Christina Marchand

Porträt von Christina Marchand
Auf welche Klimakatastrophe wir hinsteuern, wurde Christina Marchand durch den Film «Die unbequeme Wahrheit» von Al Gore bewusst. «Das hat mich aufgerüttelt», sagt sie. Daraufhin gründete die studierte Chemikerin das Filmfestival «Films for Future» sowie die Start-up-Plattform myNewEnergy.ch. Marchand ist an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften als Forscherin tätig mit Schwerpunk Energie- und Strommarkt Schweiz, erneuerbare Energien, Innovation, Klimawandel, Nachhaltigkeit und Start-ups.

ewz-Taskforce

Die Taskforce von ewz erstellt die Massnahmenpläne für den Fall eines Strommangels und bereitet das Unternehmen auf ein Worst-Case-Szenario vor. Dazu hat die Taskforce eine minutiöse Planung für die Kontingentierung für Grossverbraucher und zyklische Abschaltungen erstellt.

Diese würden auf Anordnung des Bundesrates durch OSTRAL, der Organisation für die Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen, mit den Verteilnetzbetreibern umgesetzt. «Zürich ist in drei Gebiete aufgeteilt, die alternierend für vier Stunden abgeschaltet würden», sagt Jeiziner. Die Zonen sind nicht geografisch bestimmt, sondern entsprechen einer historisch gewachsenen Netztopologie.

Ausgenommen von Abschaltungen wären Spitäler, Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste, die Sicherheit von Strafanstalten, die Wasserversorgung und Abwasserreinigung, Radio- und TV-Sendeinfrastrukturen, Bahn- und Strassentunnel sowie die Stromversorgung von Transportunternehmen.

Fragen und Antworten zu einer potenziellen Strommangellage und zur Versorgungssicherheit der Schweiz.

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